Kassandra-Gedicht

Freudlos in der Fremde Fülle,
ungesellig und allein,
wandelte Kassandra stille
in Apollos Lorbeerhain.

In des Waldes tiefsten Gründe
flüchtet sich die Seherin,
und sie warf die Priesterbinde
zürnend auf die Erde hin.

„Alles ist der Freude offen,
alle Herzen sind beglückt.
Ich allein muß einsam trauern,
denn in diesem süßen Wahn
sehe ich den trüben Mauern
das Verderben balde nahen.

Freude seh ich sich verbreiten,
doch im ahnungsvollen Geist
hör ich schon des Gottes schreiten,
der sie jammervoll zerreißt.

Und sie schelten meine Klagen,
und sie höhnen meinem Schmerz.
Einsam in die Wüste tragen,
muß ich mein gequältes Herz.

Von den Glücklichen gemieden
und den Fröhlichen ein Spott!
Schwer hast du mir es beschieden,
Oh, du pythisch arger Gott.

Mit ´nem aufgeschlossnen Sinn,
warfest du mich hin,
in die Stadt der ewig Blinden
Dein Orakel zu verkünden.

Warum gabst du mir die Gabe,
Sehen, was ich doch nicht wenden kann?
Das Verhängte muß geschehen,
das Gefürchtete muß nahen.

Geziemt es mir, den Schleier hochzuheben,
wo das nahe Schrecknis droht?
Nur der Irrtum ist das Leben,
das Wissen ist der sichre Tod!

Nimm zurück des Auges Klarheit!
Nimm zurück den üblen Schein!
Schrecklich ist es, deiner Wahrheit
sterbliches Gefäß zu sein.

Meine Blindheit gib mir wieder
und den fröhlich dunklen Sinn!
Nimmer sang ich freud´ge Lieder,
seit ich deine Stimme bin.

Die Zukunft hattest du versprochen,
doch du nahmst den Augenblick.
Brichst mein Rückgrat samt den Knochen,
Nimm dein falsch Geschenk zurück.

Nimmer mit dem Schmuck der Bräute
kränzte ich mein duftend Haar,
Seit ich deinem Dienst mich weihte
an dem traurigen Altar.

Meine Jugend war nur Weinen
und ich kannte nur den Schmerz,
wenn die herbe Not der Meinen
schlug an mein empfindsam Herz.

Mir erscheint der Lenz vergebens,
der die Erde festlich schmückt:
Wer erfreut sich schon des Lebens
der in deine Tiefen blickt.

Fröhlich seh ich die Gespielen,
alles um mich liebt und lebt.
In der Jugend Lustgefühlen,
hast du mir das Herz getrübt.

Doch auch ich hab ihn gesehen,
den mein Herz verlangend wählt.
Sah seine schönen Blicke flehen
von der Liebe Glut beseelt.

Gerne möcht ich mit dem Gatten
in die heimisch Wohnung ziehn,
doch es tritt ein styg´scher Schatten
nächtlich zwischen mich und ihn.

Und den Mordstahl seh ich blinken
und das Mörderauge glühn.
Nicht zur Rechten, nicht zur Linken
kann ich vor dem Schrecknis fliehn.

Nicht die Blicke darf ich wenden,
wissend, schauend, unverwandt
Muß ich mein Geschick vollenden,
fallend in dem fremden Land.

Und noch hallen ihre Worte,
Horcht! Da dringt verworrner Ton.
Und da kracht´s schon an der Pforte.
Alle Götter fliehn davon.

Nieder geht der Schrecken Flammen,
Schwer herab auf Ilion.